XING Magazin: Was bedeutet die Sharing Economy (SE) für bestehende Marken?

Die primäre Eigenschaft der Sharing Economy (SE) lautet „nutzen statt kaufen“. Das kann man in der einfachsten Form so auslegen, dass Unternehmen nachdenken müssen, welche ihrer Angebote eben nicht mehr als „Produkt“ sondern als „Dienstleistung “ gestaltet werden. Sharing bedeutet dann einfach, dass mehrere Menschen – wie etwa beim Car-Sharing – ein Produkt gemeinsam nutzen, wobei das Unternehmen das Produkt in seinem Eigentum behält.

Sharing findet daher vor allem in Kategorien statt, in denen der Besitz eines Produktes teurer kommt als die gelegentliche Nutzung. Die Aufgabe von Unternehmen liegt auf der Hand: Sie müssen die Fragen beantworten „Wie können wir unsere Produkte weiter denken und als Dienstleistungen konfigurieren? Und wie müssen wir unsere Marke entwickeln, damit wir als Teil der Sharing Economy und als Dienstleistungsmarke akzeptiert werden?“

Dienstleistungsmarken sind ja weit komplexer als Produktmarken. Marken haben hier eine höhere Vertrauensfunktion zu erfüllen und der Mensch spielt eine wesentlich höhere Rolle als Produktionsfaktor als im Produktgeschäft. Auch die Wertschöpfung verändert sich in der SE massiv. Denkt zum Beispiel ein Autohersteller über Dienstleistung nach, begreift er rasch, dass das Service nicht Auto heißt, sondern bequemste Mobilität. Von A nach B. Angenehm, günstig, nett. Jederzeit und überall.

Möchte ein Maschinenbauer eine Marke im Maschinenverleih aufbauen, muss er es zuerst schaffen, als Dienstleister top zu sein.

XING Magazin: Können bestehende Marken in der sharing economy reüssieren?
Marken sind positive Vorurteile. Diese positiven Gedanken in den Köpfen der Konsumenten lassen sich jedoch nicht einfach auf andere Angebote übertragen. Daher kann eine produktbasierte Marke oft nicht 1:1 als Marke für eine neue Dienstleistung genutzt werden. Niemand will ein Waschmittel von Suchard oder eine Schokolade von Nivea. Das sind nur zwei plakative Beispiele dafür, dass Marken immer in „Kategorien“ funktionieren. Ein Unternehmer mit einer produktbasierten Marke muss daher überlegen, ob er mit dieser Marke (und ihren spezifischen Qualitäten in den Köpfen von Konsumentinnen/Konsumenten) auch auf einem Dienstleistungsmarkt antreten kann.

Meist gehen derartige Unterfangen schief – die Marke wird massiv überdehnt und erfüllt die Forderungen der neuen Kategorie nicht. Im Wissen, dass der Konzern seine Produkte loswerden will, vertraut die Kundin/der Kunde seiner Marke nämlich nur in der ihm bekannten Kategorie.

XING Magazin: Welche Implikationen sehen Sie für den Aufbau von Corporate Sharing Angeboten?
Durch die begrenzte Wirkung von Marken in ihren angestammten, gelernten Kategorien, werden in der Sharing Economy am laufenden Band neue Marken aufgebaut und neue Wertschöpfungsketten definiert. Jedes Unternehmen muss heute darüber nachdenken, ob es in seinem Portfolio Dienstleitungsmarken für die Sharing Economy aufbauen will und kann, und wie die gesamte Wertschöpfung aus Kundensicht aussieht. Das ist eine große, hochkomplexe Aufgabe. Bei Brainds arbeiten wir oft mit Design-Thinking-Methoden, um neue Denk-Perspektiven in Unternehmen anzustoßen und den Kundinnen/Kunden radikal in den Mittelpunkt von Entwicklungen neuer Angebote zu stellen.

XING Magazin: Was bringt Markendenken beim Aufbau von Angeboten für die sharing economy?
Spannend ist, dass Marken selbst ein Bestandteil der Sharing Economy sind – und immer schon waren! Es sind immer Gruppen von Menschen, die sich Marken teilen, diese gemeinsam nutzen und darüber reden. Marken gehören ja nur formal und rechtlich dem Unternehmen, die Markenfans und –Gegner/innen haben aber einen entscheidenden Anteil daran, wie gut und renommiert die Marke tatsächlich ist. Folglich kann der monetäre Markenwert nur am Markt, das heißt bei den Konsument/innen selbst geprüft werden: Ihr commitment bestimmt den finanziellen Wert der Marke.

Modernes Markendenken geht heute vom Modell der „identitätsbasierten Markenführung“ nach Professor Burmann et al. aus. Identität ist das Bindeglied zwischen einem Produkt oder einer Leistung und der eigenen Lebenswelt. Wir konsumieren Marken dann, wenn sie zu unserem Lebensstil, unseren Einstellungen und unserem Wertegerüst passen. Nur was zu mir passt, kommt in meine Wohnung, darf in mein Leben.

Diese Identitätsmerkmale und unsere vermeintlich ganz individuellen Motive teilen wir mit anderen Menschen und Nutzer/innengruppen. In der Marktforschung werden solche Gruppen mit ähnlichen Identitäts-Strukturen Milieus genannt (z.B. Sinus Milieus). Mileus helfen, weil sie Komplexität abbauen. Sie nutzen und bedienen Stereotype: der klassische Audi-Fahrer, die klassische Gucci-Kundin, die „Ja, natürlich“ Familie. Fokussiere ich mich in der Entwicklung meines Angebots auf eine spezifische Milieugruppe, wird die Entwicklung von Angeboten einfacher. Ich kann rascher gesamthaft über den Menschen, seine Bedürfnisse, Lebenswelt, Motive und Nutzendimensionen nachdenken, rascher Prototypen bauen, rascher testen und schneller am Markt sein als andere.

XING Magazin: Wie entwickelt sich sharing als Lifestyle: Geht es um Abgabe von Verantwortung oder Übernahme von Verantwortung?
Sharing ist Caring! Die Protagonisten und Nutzer der Sharing Economy zeigen, dass sie Ressourcen sparen. Im Master-Narrativ bezeichnet sich die Sharing Economy als nachhaltiger – und damit besser – als Produkthersteller der „Konsumindustrie“. Die Nutzer/innen zeigen auch, dass sie moderner sind als die Generation der stolzen „(Auto)Besitzer/innen“ des letzten Jahrhunderts. Natürlich wird damit auch ein Teil der Verantwortung, die über Eigentum entsteht, abgegeben. Aber darum geht es ja auch. „Nutzen statt besitzen“ erleichtert das Leben. Der Einzelne hat weniger Sorgen. Besitz belastet.

Im Gegenzug gibt der Einzelne in der Sharing Economy auch ein großes Stück Freiheit und Selbstbestimmung ab. Das wird unsere Gesellschaft noch lange beschäftigen. Teils sind wir das gewohnt und es hat sich bewährt. Wir reden beim Zug ja auch nicht mit, welche Farbe er hat und wann er fährt. Es entstehen hier aber große Strukturen, die mit „lock in“-Strategien klar vorgeben, was zu welchem Preis verfügbar ist, und was überhaupt angeboten wird. Big-Data und das Netz bestimmen Angebot und Nachfrage. Der Wettbewerb wird eingeschränkt.

Im Aufbau solcher Strukturen helfen Marken vor allem den privaten Unternehmen, die nötige gesellschaftliche und auch staatliche Akzeptanz zu erhalten. Unternehmen verfügen in der Regel nicht über die Macht und Budgets, eine Infrastruktur für gesellschaftlich nutzbare Dienstleistungen aufzubauen. Für diesen Zweck sind Marken sehr hilfreich, um im großen Stil Relevanz oder auch Autorität in der Community der Sharing Economy aufzubauen. Und natürlich auch dabei, überhaupt eine Community hinter sein Angebot zu bringen.

Wie schafft man es, eine Community zu entwickeln?
In der Sharing Economy ist es viel leichter, Communities aufzubauen als im „klassischen“ Geschäft. Das liegt daran, dass ich einen Teil der Wertschöpfungskette dem Kunden oder Partner – also der community – überlasse. Ich kann in der Sharing Economy Konsumentinnen/Konsukenten – oder auch kleine Unternehmenspartner/innen – einladen, „Prosument/innen“ zu werden. Sie können produzieren oder konsumieren, oder beides. Damit wird man für eine Vielzahl von Menschen interessant, die sonst im Zuge des Kaufakts über mich nachdenken. Andere dürfen und sollen mitverdienen. Man wird als Partner/in interessant und kann riesige Netzwerke knüpfen, die wiederum eine große Kommunikationskraft entwickeln. Weil die Kommunikationskosten am heutigen Markt für Aufmerksamkeit massiv explodiert sind, helfen die Communities doppelt: Sie senken zuerst den Budgetbedarf für klassische Werbung. Weit wichtiger noch: Da für Menschen nichts so viel zählt wie eine persönliche Empfehlung, wird auch die Qualität der Kommunikation bzw. die Markenreputation durch Communities bestens befördert. Voraussetzung für eine derartige Community ist aber, dass der Zugang einfach gestaltet wird und das Angebot in die Lebenswelt der Community passt.

Das vollständige Interview mit Thomas Hotko ist in Ausgabe 34 des Kulturmagazins XING erschienen. Weiterführende Informationen: http://xingweb.xing-magazin.at