Attraktive Erlebnisse formen – Interview über Veränderung und Design als Beziehungsarbeit
Im Interview mit der Tiroler Wirtschaft sprechen Sonja Zant und Matthias Pöll darüber, wie Kreativität Entwicklung und Veränderung möglich macht und was das mit unseren Beziehungen zu tun hat.

Tiroler Wirtschaft: Sie werden beim FÖ N Festival über kreative Systeme und den Zusammenhang zwischen Beziehungen und Kreativität sprechen. Wieso lohnt sich der genauere Blick auf Beziehungen für Sie?
SZ: Als Unternehmensberatung und Designagentur verstehen wir unsere Arbeit grundsätzlich als Beziehungsarbeit. Wir arbeiten an den Beziehungen einer Organisation zu ihrem Markt und Umfeld, wenn wir Strategien für Marken oder Arbeitgebermarken und Positionierungen entwickeln. Und wir gestalten Beziehungen zu und zwischen Menschen, wenn wir diese Strategien dann in die Umsetzung bringen und attraktive Erlebnisse daraus formen.
Wenn Sie feststellen, dass Beziehungen Systeme formen, regt das große Gedanken an, weil es für viele, wenn nicht alle „Rahmen“ zutrifft, in denen sich Menschen bewegen. Wie kann dieses recht quirlige Wechselspiel gefasst beziehungsweise entschlüsselt werden?
MP: Wir sehen Beziehungen als die kleinsten Einheiten eines Systems. Sie halten es zusammen, lassen es überhaupt existieren und entscheiden über dessen Entwicklung und Veränderungsfähigkeit. Nehmen Sie etwa die aktuell so viel diskutierte Frage, wie wir in Zukunft arbeiten werden, oder die noch viel größere Frage, wie wir der Klimakrise begegnen können, beides sind systemische Herausforderungen, die letztlich darauf hinauslaufen, wie wir unsere Beziehungen gestalten, sprich wie wir uns aufeinander beziehen oder eben nicht: als Menschen, aber auch auf unsere Umwelt, Ressourcen, Produktivität, Wohlstand usw. Und sie sind noch in einem zweiten Sinn Beziehungsfragen, denn es braucht qualitätsvolle Beziehungen, um überhaupt funktionierende Antworten auf so komplexe Fragen finden zu können oder in anderen Worten: das notwendige Maß Kreativität aufzubringen. Das wird im flüchtigen, unverbindlichen Small Talk nicht gelingen, wie auch nicht in stark hierarchischen Konstellationen, die durch einseitige Machtausübung geprägt sind, oder im Kontext festgefahrener Beziehungskonflikte.
Wie funktioniert die Entschlüsselung?
MP: Aus der Summe der Beziehungen in einem System, ihren konkreten Formen und Qualitäten, emergiert so etwas wie eine gemeinsame Beziehungspraxis, die Kultur des Systems. Das kennen wir alle aus den Organisationen, in denen wir arbeiten. Manche Kulturelemente verstehen wir unbewusst schon beim allerersten Betreten des Gebäudes, sie sind einfach implizit da. Deshalb ist Kultur ein träges Phänomen und meistens so schwer und langsam als Ganzes zu verändern. Entschlüsseln können wir dieses Wechselspiel zwischen dem System und den einzelnen Beziehungen darin, indem wir die Beziehungsmuster identifizieren.
Dabei können uns Analyse-Werkzeuge helfen. Und zwar solche, die den großen Rahmen, der durch Purpose, Strategie und Strukturen gesetzt wird, mit dem Funktionieren der Organisation im „Kleinen“, also im Alltag, in Beziehung bringen. Wie sehen Meetings aus? Auf welchen Wegen wird Information geteilt? Welche Beziehungen sind besonders bedeutsam bzw. mächtig für das Ganze? Die Operating System Canvas von Aaron Dignan ist so ein Werkzeug, das wir momentan inspirierend und hilfreich finden, um ein konkretes Beispiel zu nennen.
Ist die Entschlüsselung oder das Bewusstsein gegenüber den entscheidenden Faktoren eines Systems wichtig – damit es nicht zusammenbricht oder eben damit es sich gut weiterentwickeln kann?
SZ: Je mehr Bewusstsein ein System darüber ausbildet, wie es Beziehungen lebt, desto zukunftsfähiger ist das System, denn desto eher wird es diese Beziehungen erfolgreich gestalten und verändern können. Entwicklung findet immer statt, weil Beziehungen und Systeme nie stillstehen, aber eine intendierte, aktive und dadurch mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreiche Entwicklung und Wandlungsfähigkeit hängt davon ab, wie gut wir uns selbst verstehen und auch in Frage stellen können. Das ist in Unternehmen nicht anders als in Paarbeziehungen.
Veränderungen machen vielen Menschen erst einmal Angst. „Angst fressen Seele auf“, wissen wir von Rainer Werner Fassbinder. Knabbert oder nagt diese Angst auch an der Kreativität?
MP: Psychologische Sicherheit ist eine wichtige Voraussetzung für Kreativität – das heißt, wie sicher ich mich als Mitglied eines Teams fühle, auch unangenehme Wahrheiten anzusprechen, Fehler zu machen und damit offen umzugehen, mich einfach frei mitzuteilen. Genau deshalb betonen wir die Bedeutung von Beziehungsqualität so sehr. Wenn wir uns in Teams und generell in Beziehungen sicher fühlen, erweitert sich unser gemeinsamer Handlungsspielraum. Dann können wir besser auf Veränderungen in unserer Umwelt reagieren, uns dem Neuen aussetzen, was immer eine kleine innere und gemeinsame „Krise“ bedeutet, und uns kreativ anpassen.
„Unsicherheit ist notwendig, um überhaupt in etwas Neues aufbrechen zu können.“
Sonja Zant
Sind Sie als Unternehmensberater:innen mit diesen Ängsten oder dieser Skepsis konfrontiert – wenn ja, wie überwinden Sie diese Mauern oder Mäuerchen?
SZ: Ganz definitiv ja. Das Wichtigste im Umgang damit ist zunächst, die Mauern ernst zu nehmen und zu versuchen, die guten Gründe für deren Bau zu verstehen. Die gibt es nämlich immer. Warum steht die Mauer genau dort? Was leistet sie für die Gruppe? Woraus ist sie gebaut? Auch das geht nur im Gespräch, also in Beziehung miteinander. Als Berater:in geht es aus unserer Erfahrung darum, diese Ängste und Ambivalenzen auszuhalten und im praktischen Tun die Erfahrung zu ermöglichen, dass Angst in Experimentierfreude sowie Lernen und Erneuern überführt werden kann. Unsicherheit ist notwendig, um überhaupt in ein Neues aufbrechen zu können. Wir verlassen dann die Zone, in der wir uns sicher fühlen und brauchen etwas anderes, an dem wir uns festhalten können, vor allem aber die positive Erfahrung, dass es sich lohnt, aufzubrechen.
MP: Wirklich qualitätsvolle Beziehungen sind dabei elastischer, also veränderungsfähiger und resilienter. Sie sind geübt darin, gemeinsam kreative Wege um Hindernisse herum zu finden oder auch auszuhalten, dass diese Mauern zumindest vorerst stehen bleiben. Das sind dann reife Beziehungen. Oder reife Organisationen, wenn man so will.
Beziehungen – in welcher Form auch immer – sind oder bleiben nur mit Bewegung spannend und kreativ. Zu wenig Bewegung führt zu unangenehmem Stillstand. Zu viel Bewegung zur möglicherweise verunsichernden Atemlosigkeit. Wie können Unternehmer:innen die richtige Balance finden? Gibt es da so etwas wie drei oder zehn Gebote?
SZ: Wir sind aktuell sowohl mit rasendem Stillstand konfrontiert – bedenkt man, dass Greta Thunbergs Botschaft noch vor Kurzem für viele als übertrieben bis hysterisch gegolten hat, oder wenn man sich das aktuelle EY Mixed Leadership Barometer ansieht und feststellt, dass nach wie vor in 40 von 55 österreichischen börsennotierten Unternehmen keine Frau im Vorstand vertreten ist – als auch mit der Atemlosigkeit aufgrund von Pandemie-Geschehen und multiplen Krisen. All diesen System-Krisen ist eines sicher, wir werden sie nur in veränderten Öko-Systemen bewältigen, die den Menschen eine zumutbare Balance zwischen Stabilität und Agilität bieten. In kreativen Öko-Systemen, die aufgrund einer veränderten Beziehungspraxis Perspektivenvielfalt zulassen, Neues denkbar machen, Selbstermächtigung und Experimentierfreude erlebbar machen und gemeinsam in Spannungsfeldern ins Tun und Handeln kommen.
MP: Zehn Gebote gibt es dafür nicht, aber sicherlich Werkzeuge und Prinzipien, die dabei helfen. Im Kern geht es immer darum, Vertrauen aufzubauen, so banal das vielleicht klingt. Wenn ich jemanden kenne und einschätzen kann, fühle ich mich sicher und kann kreativer sein. Und wenn ich den Prozess der Lösungsfindung kenne und verstehe, kann das auch mit Menschen gelingen, zu denen ich noch wenig Beziehung habe. Das ist es, was der Design Thinking Prozess leistet.
Ist „möglich machen“ ein Schlüssel auch für Unternehmer:innen, um eine kreative Dynamik zu fördern?
MP: Ja, ganz bestimmt. Wobei dieses „möglich machen“ immer auch einen guten und klaren Rahmen braucht. Wenn alles möglich ist, ist nichts wirklich möglich. Das gilt für Beziehungen und kreative Prozesse gleichermaßen.
„Beziehungen halten ein System zusammen und entscheiden über dessen Entwicklung und Veränderungsfähigkeit.“
Matthias Pöll